Reisen – was das?

Ich glaube, ich bin lange genug von zu Hause weg, um mir ein kleines Reise technisches Zwischenfazit zu erlauben. Mir wird bewusst, dass Reisen nicht nur der Schlüssel zu einer neuen Perspektive und einem objektiveren Blick auf unser eigenes Leben ist, sondern uns auch viele der Dinge zurück gibt, die wir im Schoße unserer alltäglichen Gewohnheiten verlernt oder vergessen haben.

Ich muss zum Beispiel feststellen, dass man in einem Gespräch mit jemandem, den man gerade eben erst getroffen hat, sehr schnell sehr viel von sich preisgeben kann wie auch sehr tiefgründig werden kann. Dieses Phänomen ist gar nicht mal an das Reisen gebunden, mir aber durch die hohe Frequenz neuer Leute besonders bewusst geworden. Man erzählt diesem fremden Menschen eine Geschichte, die man vielleicht schon mit jedem seiner Freunde durchgekaut hat und doch bekommt sie einen ganz neuen Anstrich, eine ganz neue Reflexion, nur weil ein Fremder seine objektive Meinung dazu kund tut. Ich glaube, dass diese Konversationen mit zufälligen Bekanntschaften, die man vielleicht in einem Bus sitzend, auf einer Felskante wartend oder klassischer Weise in einem Café beginnt, einem jede Menge geben können, ohne dass man dafür allzu viel tun muss. Es ist das simpelste und zugleich wichtigste Konzept der Welt: unsere Kommunikation. Diese befindet sich dauerhaft im Wandel und jede Generation hat aufs Neue das Gefühl, dass wir verlernen, miteinander zu sprechen. Und ich denke, das hat auch seine Berechtigung – zu mal eben jene spontanen und doch zutiefst interessanten Gespräche immer seltener werden. Wenn ich darüber nachdenke, wann ich in Deutschland zuletzt ein Gespräch mit einer fremden Person im Bus begonnen habe (ohne dass es aus Höflichkeit und ohne dass es eine ältere Dame war, die diese Form der Kommunikation noch ganz anders verinnerlicht hat), muss ich schon sehr lange überlegen. Und dabei haben wir immer die Freiheit und Wahl dies bei jeder Möglichkeit einfach zu tun.
Und das ist eines der wichtigsten Dinge, die ich bis jetzt vom Reisen mitnehme: Wir haben immer die Wahl. Wir haben immer die Wahl und können uns immer für diesen oder jeden Weg, diese oder jede Handlung, diese oder jede Art zu sein entscheiden. Viele der Menschen, die ich treffe, reisen, um sich ihrer selbst bewusst zu werden, zu verstehen, was sie wirklich wollen, einen Neuanfang zu starten, bei Null anzusetzen. Und ich sehe, dass es kein Alter, keinen Lebensabschnitt und kein Land gibt, in dem das nicht passiert bzw. nicht möglich wäre. Wenn jemand meint, es geht nicht, dann will er es meiner Meinung nach nur nicht genug, setzt seine Prioritäten anders. Wir können immer neu beginnen, wir können immer, diese Woche, heute, jetzt sofort anfangen, das zu tun, was wir wirklich wollen, was wir wirklich tief in uns ersehnen.

Reisen ist also Sehnsucht. Reisen ist Inspiration. Und Reisen bedeutet, sich selbst neu zu erfinden.
Das Gefühl, ein Reisender zu sein, befähigt einen zu jeder Menge neuer Handlungen und Eigenschaften. Man ist der Ausländer, Außenseiter, in Welpenschutz und außerdem hat man generell die Erlaubnis, jede Art von Fragen zu stellen. Das Reisen scheint uns einen Teil unserer kindlichen Neugierde zurückzugeben. Jeden Tag erleben wir etwas Neues, starten in den Tag mit der Vorfreude auf neue Orte, Menschen und Erfahrungen.
Doch wenn man es streng nimmt, können wir das auch zu Hause haben, oder nicht? Das einzige, was diesem Gefühl, dieser Lebensart, dieser neugierigen Perspektive im Wege steht, ist das kleine Ding, das sich unser Alltag schimpft. Er entsteht durch Wiederholung und die leben wir als Gewohnheitstiere jeden Tag und so oft wie nur möglich. Wir fühlen uns wohl mit Dingen, die wir kennen, mit einem geregelten Tagesablauf.
Die Dinge auf sich zukommen zu lassen, nicht alles zu planen und Inspiration in den Dingen selbst zu finden, beschert mir jedoch gerade höchste Zufriedenheit. Unsere Gefühle, Lebenseinstellungen oder die Art, wie wir uns geben, zu hinterfragen oder zu verändern, ist nicht zwingend an einen fernen Ort gebunden – auch wenn ich zugeben muss, dass man vielleicht einmal einen fremden Ort braucht, um dies überhaupt erst zu erkennen. Ich möchte dies für mein Leben verinnerlichen: reisen nicht bloß, wenn ich „Reisende“ bin, sondern immer, wenn es mir beliebt.
Warum also nicht sein Leben als Reise sehen, seinen Tag als Reise sehen? Diesen neugierigen unverbrauchten Blick, den wir haben, wenn wir unterwegs sind, mit nach Hause nehmen. Vielleicht müssen wir lernen, Neues in unserem Alltag zu finden, ihn neu zu interpretieren, ihn zu verändern. Vielleicht müssen wir nicht mit dem klassischen sich wiederholenden Abbild eines Alltags leben, sondern haben die Möglichkeit, unseren Tag immer wieder neu zu erfinden. Einen anderen Weg zur Arbeit einschlagen, sich Zeit für Dinge nehmen, die wir sonst nur im Vorübergehen tun oder weil wir sie tun müssen, und kleine Gesten, Momente und Ereignisse wieder wertschätzen.

Das Reisen hat also jede Menge wundervoller Eigenschaften – sei es Spontanität, Neugierde, Offenheit oder Mut. Wenn wir nur die Hälfte davon wenigstens ab und zu etwas mehr in unserem Tag leben, können wir ein anderes Leben haben, ein anderer Mensch sein. Dann können wir über uns hinaus wachsen, unserem Horizont hinterherjagen und einen neuen abenteuerlichen Weg finden.

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