Was ist eine Reisende ohne das Reisen?

Als Mensch mit einem sehr privilegierten Pass, der mir fast unbegrenzte Möglichkeiten gibt, in der Welt umherzureisen, bin ich es wie viele andere aus meinen Wirkungskreisen gewohnt, Grenzen relativ reibungslos zu übertreten, -fahren oder -fliegen. Ich kann theoretisch reisen, wohin mein Herz und meine finanziellen Möglichkeiten mich tragen, und werde in vielen Ländern und Kulturen mit offenen Armen empfangen. Und das nur, weil ich aus dem Land komme, aus dem ich komme. Für viele Menschen auf der Welt ist dies nicht möglich. Das kann bedeuten, dass sie ihr Land nicht verlassen können – sei es aus finanzieller Einschränkung, Reisebestimmungen oder politischen Maßnahmen, die ihnen dieses Recht verwehren. Ich bin in diese Freiheit rein geboren und mit ihr aufgewachsen und lebe sie seither als eine Selbstverständlichkeit.
Mit Reiseplänen vor einer verschlossenen Grenze zu stehen und mein Land nicht verlassen zu können, erinnert mich an diese Tatsache und lässt mich spüren, dass dieses Recht genau so schnell verwirken kann, wie der gesellschaftliche und politische Wind gerade bläst. Unabhängig davon, aus welchen Gründen es mir verwehrt wird, Ländergrenzen zu überschreiten, ist es grundsätzlich erst einmal ein beklemmendes Gefühl. Es ist der Beschnitt meiner Bewegungsfreiheit.
Damit spreche ich von zwei Dingen, die beim Reisen für mein Verständnis elementar sind: nämlich Bewegung und Freiheit.

Bewegung & Freiheit

Dass ich mich bewege, wenn ich reise, scheint im ersten Moment erst einmal offensichtlich. Egal wie weit oder schnell ich dabei vorgehe, ist Fortbewegung unabdinglich, wenn ich den Ort wechseln will. Bewegung bedeutet für mich aber nicht nur das bloße physische Zurücklegen eines Weges. Es ist viel mehr noch der Inbegriff von Veränderung. So kann ein Ortswechsel zum Beispiel Veränderung der Umgebung, der Menschen, des Klimas, der Kultur, der Ernährung und vieler anderer Faktoren bedeuten. Ohne Veränderung kann ich mich nicht bewegen. Und anders herum kann ohne Bewegung keine Veränderung stattfinden. Und Bewegung wie auch Veränderung haben gleichermaßen immer auch etwas mit Loslassen zu tun. So lasse ich den Ort los, den ich verlasse – oder dasjenige, was ich verändern möchte. Und wie bei einem kurzzeitigen Vakuum, entsteht für einen Moment Raum, den dann etwas Neues einnehmen kann.
Beim Reisen bewege ich allerdings nicht nur meinen Körper. Aus meiner persönlichen Erfahrung bewege ich dabei auch meinen Geist. Ich nehme Abstand zum Alltag und Abstand zu Routinen, die in einem gewohnten Umfeld schnell entstehen, Ich erhalte Abstand zu den Menschen, die mich normaler Weise umgeben, und somit auch Abstand zu dem Menschen, der ich in der jeweiligen Umgebung und in Gesellschaft der jeweiligen anderen Menschen bin. Ich bewege mich also in gewisser Weise einmal von mir selbst weg und kann mich aus der Ferne betrachten. Auch können meine Werte, meine Perspektive oder meine Wahrnehmung sich bewegen, wenn ich es ihnen erlaube. Das setzt voraus, dass ich mich öffne und Dinge und Gedanken durch mich hindurch bewegen lasse. In dem Falle bin ich zwar nicht in Bewegung, aber etwas in mir ist in Bewegung.
Das, was der Bewegung entgegengesetzt wird und was eintritt, wenn ich aufhöre, mich zu bewegen, ist Stillstand. Stillstand kann dabei bedeuten, dass ich meinen Körper nicht mehr durch die Welt bewege. Und genau so kann er auf geistiger Ebene bedeuten, dass mein Geist sich nicht mehr bewegt, weil ich beschließe, Ansichten, bestimmte Haltungen oder die Sicht auf mich selbst als endgültig oder gefestigt zu betrachten. Er ist dann geschlossen und lässt nichts durch. Wenn mein Geist still steht oder nicht offen ist, für innere Bewegung, kann er sich nicht verändern oder wachsen. Kann er aber nicht trotzdem »frei« sein, auch wenn er sich nicht bewegt?
Ohne zu weit zum Thema Freiheit auszuholen, bedeutet Freiheit für mich herunter gebrochen vier Dinge: erstens, die Wahl zu haben, zweitens, mir ihrer bewusst zu sein, drittens, sie zu treffen und schließlich viertens, sie umzusetzen. Dass Freiheit Bewusstsein voraussetzt, ist natürlich erst mal eine These. Nach meinem Verständnis kann ich aber eben keine Wahl treffen, wenn ich mir nicht bewusst bin, dass ich sie habe. Bei der Bewegungsfreiheit würde dies bedeuten, dass ich sowohl das Bewegen als auch das Nicht-Bewegen bewusst und aus mir selbst heraus wählen kann. Anders herum kann ich genau so wählen, mich körperlich oder geistig nicht zu bewegen. Ich würde damit immer noch meine Freiheit ausleben, solange ich mir bewusst bin, dass ich jederzeit und immer wieder erneut eine Wahl treffen und mich wieder in Bewegung setzen kann.

Frei sein ohne Freiheit?

Was aber, wenn ich wähle, mich zu bewegen, und mir dann jemand sagt, dass dies »verboten« ist? Kann ich diese Bewegungsfreiheit auch leben, obwohl sie mir genommen oder von äußeren Faktoren eingeschränkt wird? Bin ich nicht von Natur aus frei?
So lange ich mich in einem bestimmten System oder Gefüge aufhalte, gibt es eigentlich immer ein Wertekonstrukt oder Regeln, denen alles innerhalb dieses Systems unterliegt. Vielleicht habe ich die Möglichkeit, das System zu verlassen beziehungsweise zu wechseln oder aber, es zu verändern. Habe oder sehe ich diese nicht, unterliege auch ich ihm in irgendeiner Form oder werde wenigstens von ihm beeinflusst.

Ich sehe hier mindestens zwei Wege, trotzdem die Wahl zu haben und frei zu sein. Die erste besteht darin, sich über die Regeln hinwegzusetzen und trotzdem zu tun und lassen, was ich will. Je nach Strenge und Stärke des Systems hat dieser Weg dann im Umkehrschluss wahrscheinlich Konsequenzen zur Folge, bei denen ich abwägen kann, ob ich sie in Kauf nehmen möchte – ob also die Freiheit, die ich für einen Moment auslebe, die Konsequenzen wert ist.
Die zweite Möglichkeit, die ich sehe, ist, das, was ist, als Ausgangssituation zu akzeptieren und den Rahmen meiner (Bewegungs-)Freiheit neu zu definieren. Dies könnte zum Beispiel bedeuten, dass diese für mich nicht mehr darin besteht, Ländergrenzen zu überschreiten, sondern darin – innerhalb der von außen gesetzten Grenzen – wenigstens den Ort zu wählen, an dem ich sein will und an dem ich den Stillstand willentlich akzeptieren kann. Das ist natürlich leichter gesagt, als getan. Mir ist durchaus bewusst, dass viele Menschen an einen Ort gebunden sind oder sich selbst an ihn gebunden haben und somit nicht die Wahl haben oder die Wahl sehen, dies zu tun. Aber egal, ob ich diesen Ort an einem Punkt bewusst wähle oder ob ich mich fremdbestimmt und dem Stillstand ausgeliefert fühle – ich kann egal in welchem Zustand oder in welcher Situation meine Perspektive wählen und Entscheidungen treffen. Wir treffen jeden Moment unseres Lebens Entscheidungen und die einzige Frage, die sich dabei stellt, ist, wie bewusst wir sie treffen. So gesehen habe ich immer eine Wahl.

Eine weiterer Faktor für den Erhalt meiner Bewegungsfreiheit ist auch die Entscheidung, in welchem räumlichen Gefüge und auf welcher Ebene ich meine Freiheit gerade ausleben will. Das kann ein geografischer Raum sein, ein physischer Raum, wie ein Gebäude oder ein Zimmer oder der Raum meines Körpers. Ich kann mich aber auch zum Beispiel in einem virtuellen Raum wie dem Internet bewegen. Oder ich betrachte Ebenen außerhalb des materiellen Raumes – zum Beispiel emotionale, energetische oder feinstoffliche Ebenen, andere Dimensionen, innere Welten. Wenn mein Körper stillsteht, habe ich ganz andere Kapazitäten frei für diese Welten und die innere Bewegung. Auch wenn mein Körper keine Ländergrenzen mehr überschreitet oder sich großräumig von A nach B bewegt – mein Geist kann es.
Mein Geist kennt keine Grenzen. Er ist so unendlich und frei, wie alles, das existiert. Das mag vielleicht erst einmal überirdisch und abstrakt klingen, er ist aber nicht zu unterschätzen. Ich bin frei und meine Gedanken sind es auch. Und die einzige, die über die Bewegungsfreiheit meines Geistes entscheidet, bin ich. Auch hier ist die Grundvoraussetzung dafür natürlich, dass ich mir dieser Freiheit bewusst bin. Ich könnte hier ausschweifend in das Thema Bewusstsein einsteigen oder eine Diskussion darüber beginnen, ob und wie freier Wille existiert. Ich denke allerdings, für die Frage, die ich mir beantworten wollte, ist dies gar nicht unbedingt nötig.

Reisebestimmungen für den Geist

Was ist nun also am Ende eine Reisende ohne das Reisen? Ich denke, eine Reisende bleibt so lange eine Reisende, wie sie das Mindset einer Reisenden wählt. Auch wenn Grenzen schließen oder Regeln sich mit verschränkten Armen vor meine Tür stellen, bleibe ich eine Reisende. Ich bleibe eine Seele auf dem Weg mit dem Potenzial für bewusste Entscheidungen und freie Gedanken.

Es gibt sicherlich Menschen, die mir nun sagen würden: »Aber du darfst dieses oder jenes nicht denken.« Oder aber: »Du solltest trotzdem Angst haben.« Oder aber: »Du bist nicht frei.« Und diesen Menschen zeige ich dann meinen Gedanken-Reise-Pass, auf dem steht: »Doch, bin ich.«
Die innere Reise kann jederzeit und überall losgehen. Ich kann meinen Körper fühlen und beobachten. Ich kann gedankliche Prozesse durchlaufen oder -wandeln, ohne mich körperlich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Ich kann einen Spaziergang mit meiner Fantasie unternehmen und entlang des Weges die verrücktesten und unglaublichsten Welten erschaffen. Ich kann mich in den Gewässern entlang meines gedanklichen Pfades betrachten und den Spiegelungen meiner Selbst dabei zusehen, wie sie sich verändern, bewegen und verformen. Ich kann träumen, andere Leben leben oder zu anderen Planeten schweben. Ich kann in die Vergangenheit oder die Zukunft reisen, die Gedanken anderer durch mich fließen lassen, eigene Ideen entwickeln oder die Geschichte neu schreiben. Ich kann mich finden, erfinden, erkunden, den Duft der Blüten meines geistigen Raumes einatmen oder in das Tal der Ängste eintauchen, mich dort der Dunkelheit und den Schatten stellen, die dort auf mich warten, und voller Strahlkraft auf der anderen Seite wieder herauskommen.
Ich kann reisen wohin ich will. Und mit der Liebe als Wegbegleiterin kann ich jeden einzelnen dieser Pfade mit einem Lächeln beschreiten.