Von Öko-Performern, Avocado Sandwich und dem Fancy Café

Hin und wieder bin ich in den großen Städten unserer heilen Welt unterwegs und fast immer treffe ich bei der Suche nach einem kurzzeitigen Arbeitsplatz auf ein fancy Café. Für all diejenigen von euch, die sich fragen, was ich mit »fancy Café« meine, möchte ich die Beschreibung dieses Ortes heute einmal ausführen. Es ist die Sorte Café, die mir im ersten Moment das Gefühl gibt, dass alles in Ordnung ist. Die Menschen, die mich umgeben, sind gestriegelt, die komplette Umgebung ist durchzogen von den aktuellsten Trends und die frisch zubereiteten Speisen riechen nach gesicherten finanziellen Verhältnissen. Im Zweifelsfalle befinden wir uns in einem gerade gentrifizierten Viertel einer Großstadt.
Ich möchte vorweg einmal bemerken, dass auch ich in einem dieser Cafés mit löchriger Hose und meinem aufgeklappten Laptop sitze und dass die folgende kritische leicht zynische Betrachtung dieses Ortes und seiner Menschen kein Angriff sein soll, sondern vielmehr eine humorvolle Beobachtung und eine selbstironische Reflexion eines Lebensstils, der hin und wieder mal ein Teil meiner Welt ist.

Nun aber zum »fancy Café«. Woran erkennt man einen solchen Ort?
Den ersten Blick erhascht man durch die große Fensterscheibe, die mit einem weißen zarten oder handschriftlichen Logo verziert ist und den Blick freigibt auf die Cremé de la Cremé der Hipster-Szene des neuen Jahrzehnts. Ich betrete das Café.

Ein Blick auf die Karte und aufmerksames Zuhören bei den Bestellungen eröffnen ein Schlaraffenland für Menschen mit Intoleranzen, Teilzeit-Ernährungswissenschaftler:innen und Millenial-Food-Nerds.
Der Kaffee, den wir Menschen hier bestellen, ist voll von Extras und zugleich frei von allem: zum Hiertrinken oder Mitnehmen, klein, mittel, groß, extra groß, mit Kuhmilch, Hafermilch, Sojamilch, Kokosmilch, Mandelmilch oder Reismilch, mit Schaum, ohne Schaum, mit Karamell oder Zimt oder Kakao, mit Süßstoff, Xylit, Erytrit oder Stevia gesüßt, mit Glasstrohhalm, mit Kurkuma-Topping, mit einfachem oder doppeltem Espresso, first flush, second flush, zweimal geröstet, kaltgebrüht, eisgekühlt, als Frappuchino, mit Bohnen aus Afrika, Südamerika, Indien oder Indonesien, bereits verdaut, leicht bekömmlich, koffeinfrei, zuckerfrei, glutenfrei, laktosefrei, sinnfrei.

Wir Menschen, die diesen Kaffee trinken, sind genau so voll von Extras und genauso frei von allem. Gekleidet in den hippesten Marken und löchrigen Jeans, die massig Geld gekostet haben und den Anschein erwecken, als fielen wir regelmäßig hin. In Ergänzung dazu weiße Sneaker. Diese bestechen hauptsächlich durch ihren mangelnden Pragmatismus bei Schietwetter und durch mangelnde Isolierung bei kalten Temperaturen. Sie ersetzen in unserer Gesellschaft vielleicht den südostasiatischen Brauch, sich einen Fingernagel lang wachsen zu lassen, um zu repräsentieren, dass man einen hippen Büro-Job hat, statt auf dem Feld zu arbeiten. Wenn das klargestellt ist, sind auch die kaputten Jeans in ihrer Wirkung kompensiert.
Die Gesichter der Frauen neben mir wirken makellos – leicht gebräunt, geschminkt und weichgezeichnet, aber nicht zu doll und ganz unaufdringlich, denn es soll ja natürlich aussehen, auch wenn es das nicht ist. Sie sehen perfekt aus, ganz unangestrengt. Sie sprechen mit einer Aneinanderreihung von Anglizismen über Detox, ihren neuen aryuvedischen Lebensstil, ihre nächsten fernen Reiseziele auf der Bucketlist oder bestätigen einander, wie schwierig es ist, das richtige Yoga-Studio auszuwählen. Sie stellen fest, dass das ja eigentlich auch Jammern auf hohem Niveau ist – hören dann aber trotzdem nicht damit auf. Tätowierungen sind für sie Souvenirs des Lebens, Ayahuasca können sie zwar nicht richtig aussprechen, aber es ist DER effektivste Weg zum nächsten Bewusstseins erweiternden Lebenswendepunkt und den neuen konstruierten Lebensmittelpunkt bilden Persönlichkeitsentwicklung, Clean Eating, und Minimalismus.

Ich schaue mich noch einmal um. Die Wand hinter der Theke ist gefliest, das Geschirr sieht aus wie handgemacht und aus Omas Zeit – auch wenn weder das eine noch das andere zutrifft –, die Speisekarte gibt’s auf einem Klemmbrett oder an ein Stück Holz gebunden. Die Lampen hängen an ihren Kabeln aus der Decke (mein Opa würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen über so einen »Pfusch«) und die Stühle passen alle nicht zusammen – mit Absicht. Es ist so erzwungen ungezwungen, dass ich mich zwischen dem Gefühl von lockerem Ambiete und dem von ästhetischer Zwangsstörung nicht entscheiden kann. Das durchdachte systemische Colour Coding und ein stylisches Corporate Design vereinen sich mit einer intensiv ausgelebten Pinterest-Sucht, die in den aktuellsten Interior Trends zum Ausdruck kommt. Die Einrichtung vermittelt all die Romantik, Besinnlichkeit und den Charme der alten Zeit und ist dabei trotzdem unfassbar neumodisch und convenient.
»Back to the Roots«, »Used Look« und »Industrial Flair« – die Menschen suchen und finden hier oberflächlich die Bodenständigkeit, die in der Tiefe ihres komplexen schnelllebigen Alltags verloren gegangen ist. Diese Orte wecken in mir den paradoxen Anschein einer Art »gefakten Authentizität«. Sie bedienen einen Status, sie werden als Teil der Markenwolke konsumiert und sie stehen den Ästheten unserer Gesellschaft wie ein überteuertes weißes Basic T-Shirt. Sich in dieses Café zu setzen, ist ein Statement und das Bekenntnis zum urbanen scheinbar achtsamen und kosmetisch nachhaltigen Lifestyle.

Die Strohhalme sind aus Glas, die Take-Away Becher sind kompostierbar und die zwei Servietten, die ich zu meiner Bestellung bekomme, sind 100% recycled. Nichts davon ist unbedingt nötig, aber wenigstens die Label sind auf Nachhaltigkeit gestellt. Auf der Speisekarte nur natürliche frische Zutaten: Avocado-Sandwich mit Sesampaste, Chia-Samen Bowl mit Mango, Mandeln und Guarana und einige weitere Exoten, die man googlen muss, um zu verstehen, was man isst. Ach du schöne nachhaltige neue Welt!
Alles hier hat eine Tagline – doch die Realität dahinter scheint auf den zweiten Blick weniger schillernd. Das gilt sicher auch für einige der Gäste. Sie essen ihren Kuchen von Retro-Geschirr aber nicht bei Oma, tragen die Fensterglas-Brille, weil sie in ist, und nicht weil sie blind sind, und ihr Pullover ist zwar aus Bio-Baumwolle, wurde aber in China produziert.

Das Essen, welches hier überall um mich auf den Tellern thront, ist kunstvoll angerichtet, sodass es den euphorischen Konsument:innen ein Leichtes ist, den perfekten Instagram-Shot davon zu posten. Zu schade zum Essen eigentlich – allerdings auch zu teuer, um es nicht zu tun. Für eine Avocado-Stulle 8€ zu bezahlen und danach immer noch hungrig zu sein, hält ungefähr die Waage mit dem kleinen Glas gefiltertem Leitungswasser, für das ich 1€ bezahlen soll, und nachdem ich immer noch durstig bin.

Der Mann am Tresen gibt großzügig 10 Cent Trinkgeld auf seine 15€ Rechnung. Der Barista ruft in angenehmer Lautstärke in den Raum, dass der Doppel Choc Vanilla Macciato für Martin fertig sei und das Windspiel an der Tür klingt erneut, als sich ein weiteres Grüppchen glücklich strahlend in die Behaglichkeit begibt.
Ein Mann setzt sich mir gegenüber und grüßt nett. Er sieht so aus, als hätte er Muße im Gepäck und ich tausche meinen Laptop gegen ein Notizbuch ein, um uns beiden die Möglichkeit zu eröffnen, eine Unterhaltung zu führen. Einen Moment später holt er sein Handy aus der Tasche, synchronisiert seine Smartwatch und verschwindet dann mit geschäftigem Getippe und Geswipe aus der Gegenwart. Hm, na gut, vielleicht auch mal an der Zeit zu gehen.
Ich trinke den letzten Schluck meines wirklich gut bezahlbaren Cappuccinos, packe meine Sachen und überlasse den gemütlichen Platz auf der Fensterbank den im Eingang wartenden Menschen. Und dann verlasse ich dieses heimelige Nest der healthy Superfoods und individualistischen Öko-Performer.