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Texte

Mein Herz will schreiben – und dafür bekommt es hier immer wieder Raum. Die Texte sind mir Spiegel, Ventil und Ausdruck. Ich wünsche viel Freude beim Lesen oder Hören.

Die Verbindung zu meinem inneren Kind

Über das Kind in mir zu sprechen, fühlt sich für mich ein Stück weit intim an. Ich habe aber beschlossen, dass es mir persönlich so viel gibt und gegeben hat, dass ich gerne andere Menschen an meinem Prozess und Erkenntnissen teilhaben lassen möchte.

Das innere Kind als ein Anteil meiner Selbst zeigt mir die kindlichen Züge, Gewohnheiten oder Bedürfnisse, Verletzungen oder Schatten, die ich aus meiner Kindheit mit in das »Erwachsenen-Leben« genommen habe. Hin und wieder arbeite ich mit diesem Bild und kann mir so durch Vorstellungskraft näher kommen.
Jene Bilder habe ich nun mit Hilfe von Fotobearbeitung sichtbar und real werden lassen. Auch wenn die Fotos für Außenstehende vielleicht einfach wirken wie Bilder, auf denen ich mit einem beliebigen Kind abgebildet bin – für mich persönlich sind sie sehr kraftvoll. Sie fühlen sich an wie eine Zeitreise, bei der ich mir selbst in die Augen sehen kann, das Kind, das ich mal war, fühlen und berühren kann. Und zugleich ist es nicht nur Zeitreise sondern auch Spiegel von dem, was gerade ist.

Denn sie, die kleine Swantje, ist immer noch in mir und genauso Teil meiner Persönlichkeit, wie die erwachsenen Züge, die sich hinzugesellt haben. Sie ist eine wunderschöne Seele – frei, frech, wild, bunt, neugierig, fröhlich, vertraut, clever und unfassbar hungrig. Sie kann ganz schön laut sein und will immer jede Menge Aufmerksamkeit und das letzte Wort haben.
Ich habe angefangen, ihr zuzuhören und mir ihr in Kontakt zu treten. Das mag leicht schizophren klingen, ist für mich aber eine wertvolle Methode. Sie gibt mir die Möglichkeit, mich zurück zu besinnen, von ihr zu lernen, und hin und wieder auch, dieses Kind zu sein und auszuleben.

 

Fühlen

 

Sie schaut unschuldig und mit großen Augen in die Welt, die sie umgibt – ohne Scham oder Schuld.
Und sie zeigt sich und ihre Gefühle pur und ungezügelt. Da sind Schmerz, Traurigkeit, Wut, Unverständnis – aber auch Euphorie, endlose Vergnüglichkeit und Liebe. Sie fühlt sie alle ungefiltert und lässt sie da sein, lässt sie fließen. Sie offenbart sich. In vollstem Vertrauen.

Für sie ist es das Selbstverständlichste der Welt. Ich hingegen erinnere mich daran, wie es war, erlerne erst wieder, diese Gefühle pur zuzulassen und dabei ehrlich mit mir zu sein. Den Kopf, die Zweifel, die Filme im Kopf mal zu pausieren und mir Stille, Tränen, Schreie – was auch immer da sein will –  zu erlauben, ohne es stark zu bewerten, beschwichtigen oder rechtfertigen zu müssen. Diese Erlaubnis kostet mich manchmal immer noch ganz schön Überwindung und Kraft. Jedes Mal wenn es mir gelingt, merke ich, dass »Schwäche zeigen« eine große Stärke in sich trägt. Doch jedes Mal, wenn sich ein geschützter Raum auftut und ich es schaffe, meine Verletzlichkeit zuzulassen, findet eine Verbindung statt – mit mir selbst, mit anderen und mit ihr.

 

Wachsen

 

»Warum ist das so?« – »Weil das damals so üblich war.« – »Und warum?« – »Weil sich das jemand so mal überlegt hat.« »Und warum?« – das kleine Mädchen kann dieses Spiel endlos spielen. Sie ist durstig danach, alles zu verstehen. Sie ist »neu-gierig«. Alles, dem sie zum ersten Mal begegnet, ist faszinierend und magisch, wird mit großen Augen betrachtet, kritisch beäugt, berochen, mit den Fingern erfühlt oder in den Mund gesteckt. Sie will die Dinge verstehen – mit allen Sinnen und in einer tiefen Verbindung. Sie nähert sich den Dingen bis zum Kern. Und sie will mehr.

Was mir manchmal genau dabei hilft, ist, Dinge und Menschen mit den Augen der kleinen Swantje zu betrachten und mich daran zu erinnern, dass ich das Staunen über die kleinen Dinge in mir trage und es jederzeit ausleben kann. Ich darf Dinge, von denen ich denke, sie zu wissen, oder vielleicht sogar, sie besser zu wissen als andere, wieder verwerfen oder ihnen Neues hinzufügen. Ich darf auch die Dinge, die alltäglich oder »selbst-verständlich« scheinen, bewundern und neu entdecken.
Und ich darf das unbedarft und angstfrei tun. Sie hat keine Angst vor dem Unbekannten und keine Angst zu scheitern. Sie erinnert mich daran, dass es in Ordnung ist, Erfahrungen zu machen und aus ihnen zu lernen. Nach ihrer Ansicht gibt es keine Fehler sondern nur Raum zum Lernen. Sie ist wie sie ist. Ich bin wie ich bin. Ich bin hier um zu lernen, zu tanzen und zu glühen! Ich bin hier, um zu lieben, zu wachsen und zu blühen.

 

Lachen

 

Wild sein, frei sein, ungezügelt, ungefiltert, pur. An den Stellen, wo ich als Erwachsene darüber nachdenke, wie ich aussehe, wenn ich dieses oder jenes mache, oder was andere vielleicht dabei über mich denken könnten – hat sie schon lange den Sprung ins kalte Wasser gewagt, ihren Kommentar abgegeben oder die Zunge rausgestreckt. Sie macht einfach, setzt das um und durch, was sie will, geht einfach naiv vom besten aus und lässt wie selbstverständlich ihre inne wohnende Verrücktheit raus.
Sie ist eine Macherin.

Und manchmal geht es im Leben eben um Lachen und Blödsinn machen. Die kleine Swantje ist darin Meisterin. Sie spielt einfach. Und dabei meine ich kein Spiel, bei dem es ihr darum geht, einen Wettbewerb zu gewinnen oder ein Ziel zu erreichen, sondern ich meine dieses gedankenverlorene Verweilen in einer Zauberwelt, die keinen weiteren Sinn hat, als sich selbst – dieses Spielen, das sich »Sinn und Verstand« entzieht und mit ihrer Fantasie von dannen galoppiert. Sie tut die Dinge aus dem Inneren heraus und nur für sich selbst, »weil es Spaß macht« oder nur um des Tuns Willen. Sie hinterfragt sie nicht und sie sind in dem Moment des Tuns einfach »richtig« und gut so. Etwas anderes existiert gar nicht.
Einfach sein – ohne Regeln, ohne Grübeln, ohne Ziel. Tanzen, toben, Faxen machen und die Welt anlachen!

 

 

Lieben

 

Dieses kleine Wesen besteht im Kern aus purer Liebe, da bin ich mir ziemlich sicher. Liebe, mit der sie geboren wurde und die sie auch Zuhause erfahren hat. Sie verteilt großzügig Umarmungen und freut sich genau so, welche zu bekommen. Sie liebt es, wenn ihr jemand liebevoll über den Kopf streicht oder wenn sie behütet in einem Arm einschläft. Sie streichelt Tiere, rettet kleine Insekten vor dem Ertrinken, spricht mit Pflanzen und streicht mit dem Finger vorsichtig über die Blüten der Blumen. Sie liebt die Welt.
Dieses Vertrauen, die Offenheit und eine Art, die ich fast als eine optimistische Naivität bezeichnen würde, sind Dinge, an die sie mich immer wieder erinnert. Sie fragt, wann es endlich genug ist, bittet mich um Geduld und mehr Pausen und sagt, wenn es ihr zu viel wird oder sie nicht mehr kann. Sie sagt mir auch, wenn sie Dinge vielleicht gar nicht machen möchte und fängt dann an zu weinen.
Heute versuche ich, diesem Kind und somit mir selbst mit einem liebevollen Blick zu begegnen. Ich möchte ihr zuhören, geduldig mit ihr sein, ihr alles vergeben, bei dem sie sich noch schuldig fühlt, ihr erlauben, die Dinge zu tun, die ihr Herz will, und sie sehen, akzeptieren und lieben als den Menschen, der sie ist. Immer wenn mir das gelingt und ich sie sehe und spüre, merke ich, dass sich etwas in mir öffnet – wie eine Blüte, die die Strahlen der Sonne wähnt.

»Liebevoll« und das Gefühl, das diesem Wort innewohnt, war und ist für mich der Schlüssel zu einer inneren Umarmung. Einer Umarmung, die ich pflege und zu der ich mich immer wieder zurück besinnen möchte.

Was ist eine Reisende ohne das Reisen?

Als Mensch mit einem sehr privilegierten Pass, der mir fast unbegrenzte Möglichkeiten gibt, in der Welt umherzureisen, bin ich es wie viele andere aus meinen Wirkungskreisen gewohnt, Grenzen relativ reibungslos zu übertreten, -fahren oder -fliegen. Ich kann theoretisch reisen, wohin mein Herz und meine finanziellen Möglichkeiten mich tragen, und werde in vielen Ländern und Kulturen mit offenen Armen empfangen. Und das nur, weil ich aus dem Land komme, aus dem ich komme. Für viele Menschen auf der Welt ist dies nicht möglich. Das kann bedeuten, dass sie ihr Land nicht verlassen können – sei es aus finanzieller Einschränkung, Reisebestimmungen oder politischen Maßnahmen, die ihnen dieses Recht verwehren. Ich bin in diese Freiheit rein geboren und mit ihr aufgewachsen und lebe sie seither als eine Selbstverständlichkeit.
Mit Reiseplänen vor einer verschlossenen Grenze zu stehen und mein Land nicht verlassen zu können, erinnert mich an diese Tatsache und lässt mich spüren, dass dieses Recht genau so schnell verwirken kann, wie der gesellschaftliche und politische Wind gerade bläst. Unabhängig davon, aus welchen Gründen es mir verwehrt wird, Ländergrenzen zu überschreiten, ist es grundsätzlich erst einmal ein beklemmendes Gefühl. Es ist der Beschnitt meiner Bewegungsfreiheit.
Damit spreche ich von zwei Dingen, die beim Reisen für mein Verständnis elementar sind: nämlich Bewegung und Freiheit.

Bewegung & Freiheit

Dass ich mich bewege, wenn ich reise, scheint im ersten Moment erst einmal offensichtlich. Egal wie weit oder schnell ich dabei vorgehe, ist Fortbewegung unabdinglich, wenn ich den Ort wechseln will. Bewegung bedeutet für mich aber nicht nur das bloße physische Zurücklegen eines Weges. Es ist viel mehr noch der Inbegriff von Veränderung. So kann ein Ortswechsel zum Beispiel Veränderung der Umgebung, der Menschen, des Klimas, der Kultur, der Ernährung und vieler anderer Faktoren bedeuten. Ohne Veränderung kann ich mich nicht bewegen. Und anders herum kann ohne Bewegung keine Veränderung stattfinden. Und Bewegung wie auch Veränderung haben gleichermaßen immer auch etwas mit Loslassen zu tun. So lasse ich den Ort los, den ich verlasse – oder dasjenige, was ich verändern möchte. Und wie bei einem kurzzeitigen Vakuum, entsteht für einen Moment Raum, den dann etwas Neues einnehmen kann.
Beim Reisen bewege ich allerdings nicht nur meinen Körper. Aus meiner persönlichen Erfahrung bewege ich dabei auch meinen Geist. Ich nehme Abstand zum Alltag und Abstand zu Routinen, die in einem gewohnten Umfeld schnell entstehen, Ich erhalte Abstand zu den Menschen, die mich normaler Weise umgeben, und somit auch Abstand zu dem Menschen, der ich in der jeweiligen Umgebung und in Gesellschaft der jeweiligen anderen Menschen bin. Ich bewege mich also in gewisser Weise einmal von mir selbst weg und kann mich aus der Ferne betrachten. Auch können meine Werte, meine Perspektive oder meine Wahrnehmung sich bewegen, wenn ich es ihnen erlaube. Das setzt voraus, dass ich mich öffne und Dinge und Gedanken durch mich hindurch bewegen lasse. In dem Falle bin ich zwar nicht in Bewegung, aber etwas in mir ist in Bewegung.
Das, was der Bewegung entgegengesetzt wird und was eintritt, wenn ich aufhöre, mich zu bewegen, ist Stillstand. Stillstand kann dabei bedeuten, dass ich meinen Körper nicht mehr durch die Welt bewege. Und genau so kann er auf geistiger Ebene bedeuten, dass mein Geist sich nicht mehr bewegt, weil ich beschließe, Ansichten, bestimmte Haltungen oder die Sicht auf mich selbst als endgültig oder gefestigt zu betrachten. Er ist dann geschlossen und lässt nichts durch. Wenn mein Geist still steht oder nicht offen ist, für innere Bewegung, kann er sich nicht verändern oder wachsen. Kann er aber nicht trotzdem »frei« sein, auch wenn er sich nicht bewegt?
Ohne zu weit zum Thema Freiheit auszuholen, bedeutet Freiheit für mich herunter gebrochen vier Dinge: erstens, die Wahl zu haben, zweitens, mir ihrer bewusst zu sein, drittens, sie zu treffen und schließlich viertens, sie umzusetzen. Dass Freiheit Bewusstsein voraussetzt, ist natürlich erst mal eine These. Nach meinem Verständnis kann ich aber eben keine Wahl treffen, wenn ich mir nicht bewusst bin, dass ich sie habe. Bei der Bewegungsfreiheit würde dies bedeuten, dass ich sowohl das Bewegen als auch das Nicht-Bewegen bewusst und aus mir selbst heraus wählen kann. Anders herum kann ich genau so wählen, mich körperlich oder geistig nicht zu bewegen. Ich würde damit immer noch meine Freiheit ausleben, solange ich mir bewusst bin, dass ich jederzeit und immer wieder erneut eine Wahl treffen und mich wieder in Bewegung setzen kann.

Frei sein ohne Freiheit?

Was aber, wenn ich wähle, mich zu bewegen, und mir dann jemand sagt, dass dies »verboten« ist? Kann ich diese Bewegungsfreiheit auch leben, obwohl sie mir genommen oder von äußeren Faktoren eingeschränkt wird? Bin ich nicht von Natur aus frei?
So lange ich mich in einem bestimmten System oder Gefüge aufhalte, gibt es eigentlich immer ein Wertekonstrukt oder Regeln, denen alles innerhalb dieses Systems unterliegt. Vielleicht habe ich die Möglichkeit, das System zu verlassen beziehungsweise zu wechseln oder aber, es zu verändern. Habe oder sehe ich diese nicht, unterliege auch ich ihm in irgendeiner Form oder werde wenigstens von ihm beeinflusst.

Ich sehe hier mindestens zwei Wege, trotzdem die Wahl zu haben und frei zu sein. Die erste besteht darin, sich über die Regeln hinwegzusetzen und trotzdem zu tun und lassen, was ich will. Je nach Strenge und Stärke des Systems hat dieser Weg dann im Umkehrschluss wahrscheinlich Konsequenzen zur Folge, bei denen ich abwägen kann, ob ich sie in Kauf nehmen möchte – ob also die Freiheit, die ich für einen Moment auslebe, die Konsequenzen wert ist.
Die zweite Möglichkeit, die ich sehe, ist, das, was ist, als Ausgangssituation zu akzeptieren und den Rahmen meiner (Bewegungs-)Freiheit neu zu definieren. Dies könnte zum Beispiel bedeuten, dass diese für mich nicht mehr darin besteht, Ländergrenzen zu überschreiten, sondern darin – innerhalb der von außen gesetzten Grenzen – wenigstens den Ort zu wählen, an dem ich sein will und an dem ich den Stillstand willentlich akzeptieren kann. Das ist natürlich leichter gesagt, als getan. Mir ist durchaus bewusst, dass viele Menschen an einen Ort gebunden sind oder sich selbst an ihn gebunden haben und somit nicht die Wahl haben oder die Wahl sehen, dies zu tun. Aber egal, ob ich diesen Ort an einem Punkt bewusst wähle oder ob ich mich fremdbestimmt und dem Stillstand ausgeliefert fühle – ich kann egal in welchem Zustand oder in welcher Situation meine Perspektive wählen und Entscheidungen treffen. Wir treffen jeden Moment unseres Lebens Entscheidungen und die einzige Frage, die sich dabei stellt, ist, wie bewusst wir sie treffen. So gesehen habe ich immer eine Wahl.

Eine weiterer Faktor für den Erhalt meiner Bewegungsfreiheit ist auch die Entscheidung, in welchem räumlichen Gefüge und auf welcher Ebene ich meine Freiheit gerade ausleben will. Das kann ein geografischer Raum sein, ein physischer Raum, wie ein Gebäude oder ein Zimmer oder der Raum meines Körpers. Ich kann mich aber auch zum Beispiel in einem virtuellen Raum wie dem Internet bewegen. Oder ich betrachte Ebenen außerhalb des materiellen Raumes – zum Beispiel emotionale, energetische oder feinstoffliche Ebenen, andere Dimensionen, innere Welten. Wenn mein Körper stillsteht, habe ich ganz andere Kapazitäten frei für diese Welten und die innere Bewegung. Auch wenn mein Körper keine Ländergrenzen mehr überschreitet oder sich großräumig von A nach B bewegt – mein Geist kann es.
Mein Geist kennt keine Grenzen. Er ist so unendlich und frei, wie alles, das existiert. Das mag vielleicht erst einmal überirdisch und abstrakt klingen, er ist aber nicht zu unterschätzen. Ich bin frei und meine Gedanken sind es auch. Und die einzige, die über die Bewegungsfreiheit meines Geistes entscheidet, bin ich. Auch hier ist die Grundvoraussetzung dafür natürlich, dass ich mir dieser Freiheit bewusst bin. Ich könnte hier ausschweifend in das Thema Bewusstsein einsteigen oder eine Diskussion darüber beginnen, ob und wie freier Wille existiert. Ich denke allerdings, für die Frage, die ich mir beantworten wollte, ist dies gar nicht unbedingt nötig.

Reisebestimmungen für den Geist

Was ist nun also am Ende eine Reisende ohne das Reisen? Ich denke, eine Reisende bleibt so lange eine Reisende, wie sie das Mindset einer Reisenden wählt. Auch wenn Grenzen schließen oder Regeln sich mit verschränkten Armen vor meine Tür stellen, bleibe ich eine Reisende. Ich bleibe eine Seele auf dem Weg mit dem Potenzial für bewusste Entscheidungen und freie Gedanken.

Es gibt sicherlich Menschen, die mir nun sagen würden: »Aber du darfst dieses oder jenes nicht denken.« Oder aber: »Du solltest trotzdem Angst haben.« Oder aber: »Du bist nicht frei.« Und diesen Menschen zeige ich dann meinen Gedanken-Reise-Pass, auf dem steht: »Doch, bin ich.«
Die innere Reise kann jederzeit und überall losgehen. Ich kann meinen Körper fühlen und beobachten. Ich kann gedankliche Prozesse durchlaufen oder -wandeln, ohne mich körperlich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Ich kann einen Spaziergang mit meiner Fantasie unternehmen und entlang des Weges die verrücktesten und unglaublichsten Welten erschaffen. Ich kann mich in den Gewässern entlang meines gedanklichen Pfades betrachten und den Spiegelungen meiner Selbst dabei zusehen, wie sie sich verändern, bewegen und verformen. Ich kann träumen, andere Leben leben oder zu anderen Planeten schweben. Ich kann in die Vergangenheit oder die Zukunft reisen, die Gedanken anderer durch mich fließen lassen, eigene Ideen entwickeln oder die Geschichte neu schreiben. Ich kann mich finden, erfinden, erkunden, den Duft der Blüten meines geistigen Raumes einatmen oder in das Tal der Ängste eintauchen, mich dort der Dunkelheit und den Schatten stellen, die dort auf mich warten, und voller Strahlkraft auf der anderen Seite wieder herauskommen.
Ich kann reisen wohin ich will. Und mit der Liebe als Wegbegleiterin kann ich jeden einzelnen dieser Pfade mit einem Lächeln beschreiten.

Von Öko-Performern, Avocado Sandwich und dem Fancy Café

Hin und wieder bin ich in den großen Städten unserer heilen Welt unterwegs und fast immer treffe ich bei der Suche nach einem kurzzeitigen Arbeitsplatz auf ein fancy Café. Für all diejenigen von euch, die sich fragen, was ich mit »fancy Café« meine, möchte ich die Beschreibung dieses Ortes heute einmal ausführen. Es ist die Sorte Café, die mir im ersten Moment das Gefühl gibt, dass alles in Ordnung ist. Die Menschen, die mich umgeben, sind gestriegelt, die komplette Umgebung ist durchzogen von den aktuellsten Trends und die frisch zubereiteten Speisen riechen nach gesicherten finanziellen Verhältnissen. Im Zweifelsfalle befinden wir uns in einem gerade gentrifizierten Viertel einer Großstadt.
Ich möchte vorweg einmal bemerken, dass auch ich in einem dieser Cafés mit löchriger Hose und meinem aufgeklappten Laptop sitze und dass die folgende kritische leicht zynische Betrachtung dieses Ortes und seiner Menschen kein Angriff sein soll, sondern vielmehr eine humorvolle Beobachtung und eine selbstironische Reflexion eines Lebensstils, der hin und wieder mal ein Teil meiner Welt ist.

Nun aber zum »fancy Café«. Woran erkennt man einen solchen Ort?
Den ersten Blick erhascht man durch die große Fensterscheibe, die mit einem weißen zarten oder handschriftlichen Logo verziert ist und den Blick freigibt auf die Cremé de la Cremé der Hipster-Szene des neuen Jahrzehnts. Ich betrete das Café.

Ein Blick auf die Karte und aufmerksames Zuhören bei den Bestellungen eröffnen ein Schlaraffenland für Menschen mit Intoleranzen, Teilzeit-Ernährungswissenschaftler:innen und Millenial-Food-Nerds.
Der Kaffee, den wir Menschen hier bestellen, ist voll von Extras und zugleich frei von allem: zum Hiertrinken oder Mitnehmen, klein, mittel, groß, extra groß, mit Kuhmilch, Hafermilch, Sojamilch, Kokosmilch, Mandelmilch oder Reismilch, mit Schaum, ohne Schaum, mit Karamell oder Zimt oder Kakao, mit Süßstoff, Xylit, Erytrit oder Stevia gesüßt, mit Glasstrohhalm, mit Kurkuma-Topping, mit einfachem oder doppeltem Espresso, first flush, second flush, zweimal geröstet, kaltgebrüht, eisgekühlt, als Frappuchino, mit Bohnen aus Afrika, Südamerika, Indien oder Indonesien, bereits verdaut, leicht bekömmlich, koffeinfrei, zuckerfrei, glutenfrei, laktosefrei, sinnfrei.

Wir Menschen, die diesen Kaffee trinken, sind genau so voll von Extras und genauso frei von allem. Gekleidet in den hippesten Marken und löchrigen Jeans, die massig Geld gekostet haben und den Anschein erwecken, als fielen wir regelmäßig hin. In Ergänzung dazu weiße Sneaker. Diese bestechen hauptsächlich durch ihren mangelnden Pragmatismus bei Schietwetter und durch mangelnde Isolierung bei kalten Temperaturen. Sie ersetzen in unserer Gesellschaft vielleicht den südostasiatischen Brauch, sich einen Fingernagel lang wachsen zu lassen, um zu repräsentieren, dass man einen hippen Büro-Job hat, statt auf dem Feld zu arbeiten. Wenn das klargestellt ist, sind auch die kaputten Jeans in ihrer Wirkung kompensiert.
Die Gesichter der Frauen neben mir wirken makellos – leicht gebräunt, geschminkt und weichgezeichnet, aber nicht zu doll und ganz unaufdringlich, denn es soll ja natürlich aussehen, auch wenn es das nicht ist. Sie sehen perfekt aus, ganz unangestrengt. Sie sprechen mit einer Aneinanderreihung von Anglizismen über Detox, ihren neuen aryuvedischen Lebensstil, ihre nächsten fernen Reiseziele auf der Bucketlist oder bestätigen einander, wie schwierig es ist, das richtige Yoga-Studio auszuwählen. Sie stellen fest, dass das ja eigentlich auch Jammern auf hohem Niveau ist – hören dann aber trotzdem nicht damit auf. Tätowierungen sind für sie Souvenirs des Lebens, Ayahuasca können sie zwar nicht richtig aussprechen, aber es ist DER effektivste Weg zum nächsten Bewusstseins erweiternden Lebenswendepunkt und den neuen konstruierten Lebensmittelpunkt bilden Persönlichkeitsentwicklung, Clean Eating, und Minimalismus.

Ich schaue mich noch einmal um. Die Wand hinter der Theke ist gefliest, das Geschirr sieht aus wie handgemacht und aus Omas Zeit – auch wenn weder das eine noch das andere zutrifft –, die Speisekarte gibt’s auf einem Klemmbrett oder an ein Stück Holz gebunden. Die Lampen hängen an ihren Kabeln aus der Decke (mein Opa würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen über so einen »Pfusch«) und die Stühle passen alle nicht zusammen – mit Absicht. Es ist so erzwungen ungezwungen, dass ich mich zwischen dem Gefühl von lockerem Ambiete und dem von ästhetischer Zwangsstörung nicht entscheiden kann. Das durchdachte systemische Colour Coding und ein stylisches Corporate Design vereinen sich mit einer intensiv ausgelebten Pinterest-Sucht, die in den aktuellsten Interior Trends zum Ausdruck kommt. Die Einrichtung vermittelt all die Romantik, Besinnlichkeit und den Charme der alten Zeit und ist dabei trotzdem unfassbar neumodisch und convenient.
»Back to the Roots«, »Used Look« und »Industrial Flair« – die Menschen suchen und finden hier oberflächlich die Bodenständigkeit, die in der Tiefe ihres komplexen schnelllebigen Alltags verloren gegangen ist. Diese Orte wecken in mir den paradoxen Anschein einer Art »gefakten Authentizität«. Sie bedienen einen Status, sie werden als Teil der Markenwolke konsumiert und sie stehen den Ästheten unserer Gesellschaft wie ein überteuertes weißes Basic T-Shirt. Sich in dieses Café zu setzen, ist ein Statement und das Bekenntnis zum urbanen scheinbar achtsamen und kosmetisch nachhaltigen Lifestyle.

Die Strohhalme sind aus Glas, die Take-Away Becher sind kompostierbar und die zwei Servietten, die ich zu meiner Bestellung bekomme, sind 100% recycled. Nichts davon ist unbedingt nötig, aber wenigstens die Label sind auf Nachhaltigkeit gestellt. Auf der Speisekarte nur natürliche frische Zutaten: Avocado-Sandwich mit Sesampaste, Chia-Samen Bowl mit Mango, Mandeln und Guarana und einige weitere Exoten, die man googlen muss, um zu verstehen, was man isst. Ach du schöne nachhaltige neue Welt!
Alles hier hat eine Tagline – doch die Realität dahinter scheint auf den zweiten Blick weniger schillernd. Das gilt sicher auch für einige der Gäste. Sie essen ihren Kuchen von Retro-Geschirr aber nicht bei Oma, tragen die Fensterglas-Brille, weil sie in ist, und nicht weil sie blind sind, und ihr Pullover ist zwar aus Bio-Baumwolle, wurde aber in China produziert.

Das Essen, welches hier überall um mich auf den Tellern thront, ist kunstvoll angerichtet, sodass es den euphorischen Konsument:innen ein Leichtes ist, den perfekten Instagram-Shot davon zu posten. Zu schade zum Essen eigentlich – allerdings auch zu teuer, um es nicht zu tun. Für eine Avocado-Stulle 8€ zu bezahlen und danach immer noch hungrig zu sein, hält ungefähr die Waage mit dem kleinen Glas gefiltertem Leitungswasser, für das ich 1€ bezahlen soll, und nachdem ich immer noch durstig bin.

Der Mann am Tresen gibt großzügig 10 Cent Trinkgeld auf seine 15€ Rechnung. Der Barista ruft in angenehmer Lautstärke in den Raum, dass der Doppel Choc Vanilla Macciato für Martin fertig sei und das Windspiel an der Tür klingt erneut, als sich ein weiteres Grüppchen glücklich strahlend in die Behaglichkeit begibt.
Ein Mann setzt sich mir gegenüber und grüßt nett. Er sieht so aus, als hätte er Muße im Gepäck und ich tausche meinen Laptop gegen ein Notizbuch ein, um uns beiden die Möglichkeit zu eröffnen, eine Unterhaltung zu führen. Einen Moment später holt er sein Handy aus der Tasche, synchronisiert seine Smartwatch und verschwindet dann mit geschäftigem Getippe und Geswipe aus der Gegenwart. Hm, na gut, vielleicht auch mal an der Zeit zu gehen.
Ich trinke den letzten Schluck meines wirklich gut bezahlbaren Cappuccinos, packe meine Sachen und überlasse den gemütlichen Platz auf der Fensterbank den im Eingang wartenden Menschen. Und dann verlasse ich dieses heimelige Nest der healthy Superfoods und individualistischen Öko-Performer.

Einsamkeit zwischen den Zeilen

Zwei Menschen. Zwei Geschichten.

Sie saßen zusammen
vor den Bildschirmen
ihrer Telefone

Und unterhielten sich
online mit Menschen,
die ihnen fremd waren.

Er schaute sie an
doch war in Gedanken
bei all den Frauen aus seiner App.

Und sie schaute ihn an
und dachte an den Mann,
der gerade ihr Profil angesehen hatte.

Und so trafen sich ihre Blicke
nie, weil sie immer wieder abglitten
in die Welt hinter der Scheibe.

Für eine Ewigkeit
verblieben sie in ihrer Starre
und bemerkten es nicht.

Ihre Herzen waren erfüllt
von der Leere
externer Bestätigung.

Ihre Körper waren erregt
von jeder Notification
und jedem Like.

Und ihre Seelen verbunden sich für immer
mit der Unendlichkeit
des Internets.

Menschen, die auf Bücher starren

Manchmal in der U-Bahn fühle ich mich etwas verloren. Ich stehe dann dort und suche nach einem Menschen, der meinen Blick erwidert. Ich finde oft zahlreiche gesenkte Köpfe, welche mit leeren Gesichtern an tippenden und swipenden Fingern vorbei auf einen hell erleuchteten Bildschirm blicken. Das macht mich dann teilweise traurig, teilweise nachdenklich. Und dann erblicke ich vielleicht eines der selteneren Exemplare: Zwischen ihnen sitzt eine Gestalt mit einem Buch. Es gibt sie noch! Doch auch dieser Mensch schaut mich nicht an. Sein Blick ist genau so an das Papier geheftet wie die Blicke der anderen an ihre Smartphones. Hat sich also gar nichts verändert? Wurde nur das Medium durch ein anderes ersetzt? Waren wir schon immer so?
Gibt es einen Unterschied zwischen diesen beiden Menschen – dem einen, welcher auf sein Handy starrt, und dem anderen, der auf sein Buch starrt? Ich möchte meinen, da gibt es nicht nur einen. Ich werde versuchen, mir das etwas genauer anzusehen. Und für’s Erste beginne ich mit dem Buch.

Körper & Sterblichkeit

Gehe ich dabei von einem klassischen Buch aus, so stehen da Worte schwarz auf weißem Papier. Ein mancher wird vielleicht direkt schnaubend zum »Aber..« ansetzen und mir ist natürlich durchaus bewusst, dass es eine Menge Menschen gibt, die ihre Lektüre über den E-Book-Reader konsumieren, aber diesen möchte ich für’s Erste und für den Vergleich aussparen. Eine Zeitung oder ähnliche Erscheinungsformen sind natürlich grundsätzlich auch denkbar – in meiner Vorstellung spreche ich aber über ein gebundenes Buch, gefüllt mit Wörtern. Es besteht aus Papier und riecht auch so und wurde aus einem Baum oder aus recycelten Altpapier hergestellt. Und auch wenn Ersteres der Fall ist, so ist dies immerhin ein Rohstoff, der nachwächst und recyclebar ist.
Auf seinen Seiten stehen Buchstaben, die dem ihm mit einem Stift oder der Druckerpresse verliehen wurden. Und diese verbleiben auch in ihm – eine sehr ehrliche Eigenschaft. Der Text fließt über seine Seiten vom Anfang bis zum Ende; und nur unser Geist mag ihn darüber hinaus vervollständigen. Es ist also – zumindest aus der physischen Betrachtung – endlich. Ich kann es zwar wiederholt lesen und neue Dinge in oder zwischen den Zeilen finden, die Zeilen selbst allerdings bleiben die gleichen.

Bücher bleiben lesbar, sofern ich ihre Sprache lesen kann und Licht auf sie fällt. Sie bleiben auf dieser Welt, und stehen uns zur Verfügung solange, bis sie sich auflösen – auf die ein oder die andere Art. Wasser macht ein Buch weich und bringt es zum Reißen, Feuer verschlingt es binnen Sekunden, und Zeit nagt an ihm, bis am Ende nichts mehr von ihm übrig ist. Es ist somit ganz schön anfällig – man möchte fast sagen sterblich. Und so lebt nicht bloß sein Körper, nein, auch sein Inhalt ist der Vergänglichkeit geweiht. Denn der physische Verfall reißt auch die Zeilen und ihren Inhalt mit in den Tod. Das Buch hat als Körper also eine organische Lebendigkeit. Es besteht aus einem Material, durch das Nährstoffe geflossen sind und welches durch die Kraft der Pflanze gewachsen ist. Im entfernten Sinne halten wir so ein Stück Natur in unseren Händen.
Und es liegt wortwörtlich in unserer Hand, was damit passiert. Ich kann Seiten herausreißen oder einknicken, beschriften, bemalen, kopieren oder verschicken. Das Buch ist mir ausgesetzt. Es ist ein Gegenstand, den ich (scheinbar) besitzen kann, mir ins Regal stellen oder umhertragen kann – auch wenn das bei einigen Büchern eine sportliche Angelegenheit werden kann. So werden manche Bücher zu Begleitern, leisten uns Gesellschaft beim Warten, auf Reisen, auf Nachttischen und beim Einschlafen. Doch was macht diese Begleiter aus?

Der geistige Raum & seine Magie

Funktional gesehen ist ein Buch in erster Linie ein Speicher, eine Form der Kommunikation – es enthält Erklärungen, Worte, Wissen, Gedanken, Geschichten. Ein Mensch schreibt seine Gedanken auf und holt sie in die physische Welt außerhalb seines Geistes. Er macht sie sichtbar und transferiert sie so auf ein Medium, von dem ein anderer Mensch sie aufgreifen kann. So entstehen bei den Lesenden neue Gedanken, Gefühle und Bilder im Kopf. Das Buch kann natürlich inhaltlich von einem romantischen Roman, über einen Thriller, eine Biografie bis hin zum Sachbuch alles sein. Aber die Art und Weise, wie es spricht, ist relativ eindeutig. Es spricht zumeist über Worte, die in Zeilen in den Augen des Lesers kurz verweilen und dann durch Augen, Hirn und Herz langsam tiefer eindringen. Sich verweben mit den eigenen Gedanken. Mal laden sie zum Tanz ein und und mal fliegen sie in flüchtiger Manier vorbei und winken nur freundlich zum Gruß. Sie stellen eine direkte Verbindung her zwischen dem Menschen, der sie mal verfasst hat, und dem Menschen, der sie nun liest. Diese Verbindung existiert jenseits von Zeit – ganz egal, ob der Autor es gestern geschrieben hat oder vor 10 Jahren, ob er noch lebt oder schon lange verblichen ist.

Das Buch ist also eine Zeitreise-Maschine für Gedanken, ein Gefährt für Ideen, um von einem Geistes-Hafen in den nächsten zu gelangen. Es ist eine Schatztruhe für jene, die sich ihr mit dem Schlüssel der Sprache und einem offenen Geist nähern.
Und manchmal packen die Gedanken den Menschen, der sie liest. Sie greifen durch seine Augen bis tief in ihn hinein und halten ihn gefesselt an ihren Fluss.
Und der Mensch, der sich diesem Gedankenstrom hingibt und sich von ihm mitreißen lässt, verliert darin seine Existenz in der realen Welt. Er sitzt, steht oder liegt zwar immer noch da, wo er es während des Lesens tut, doch sein Geist ist fern und in einer anderen Welt. Es kann eine Flucht sein – wenn ich mich lieber in den Gedanken eines anderen aufhalte als in den eigenen. Und es kann eine Sucht sein, wenn ich sie verzehre, wenn sie mich vereinnahmen und durchströmen. Sie können Besitz von mir ergreifen. Und irgendwie werden sie in dem Moment, da ich sie lese, für den Moment, da ich sie denke, die meinen. Sie werden ein Teil von mir – manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Und so können Bücher Gedanken in großen Menschenmassen verbreiten. Gedanken jeglicher Art – mit Folgen jeglicher Art.

Ein Buch ist aber nicht ausschließlich das, was ein Autor oder eine Autorin ihm anvertraut, sondern genau so sehr auch das, was ein jeder Leser oder eine jede Leserin daraus interpretiert, fühlt, verdreht, versteht, erkennt und fortsetzt.
Die Seiten eines Buches öffnen eine Tür. Und wenn ich sie durchschreite, betrete ich den Raum, den ein anderer Mensch errichtet hat. Dieser Raum ist ein Geschenk. Seine Beschaffenheit ist pur, denn er ist nur durch Worte errichtet – keine Stimme, kein bewegtes Bild, nichts, was ihn gestaltet, außer Sprache. Er reicht von der ersten Seite des Buches bis zur letzten. Alles, was darüber hinausgeht, wird dann von mir, der Lesenden, ergänzt.
Ich kann in ihm wandeln, ihn betrachten, ihn fühlen. Und mein Geist, meine Fantasie kann ihn verändern, ihm etwas hinzufügen. Oder aber der Raum fügt etwas zu meiner Fantasie hinzu. Er kann mich etwas lehren, mich inspirieren und mich zum Nachdenken anregen. Dieser Raum kann eine Welt eröffnen, in die ich mit ganzem Herzen eintauche.
Aber wie betrete ich diesen Raum? Und was passiert, wenn ich dort bin?

Starren & Lauschen

Die Zeit bleibt stehen, wenn ich lese. Ich verlasse die Zeit sogar irgendwie für einen Moment – ebenso wie den physischen Raum, in dem ich im körperlichem Autopilot sitze.
Mein Körper verbleibt in einem Schon-Zustand, übt sich in Stillstand. Vielleicht könnte man ein Buch auch als eine Entsagung von Multitasking in eine Art von Aktivitäts-Monogamie betrachten. Die Augen schlendern über die Zeilen, steigen Absatz für Absatz hinab und werden hin und wieder von der umblätternden Hand auf die nächste Seite befördert. Sie lesen. Und sonst passiert nichts. Ist das nicht eine wunderschöne Einfachheit? Egal wie komplex der Inhalt oder der Raum sein mag, den das Buch öffnet – der Schlüssel ist ein sehr einfacher Vorgang. Auch wenn ich bei genauerer Betrachtung feststelle, dass der Weg zum Lesen vielleicht gar nicht so simpel ist. Lesen zu lernen, eine Sprache zu lernen und auch das Thema und den jeweiligen Grad an Komplexität zu verstehen, ist ein Privileg, dass nicht allen Menschen zu Teil wird. Es ist also vielleicht ein schlicht aussehender Schlüssel – er ist jedoch aufwändig in der Herstellung, passt nicht in jedes Buch und ist als Teil von Bildung noch immer vielen Menschen vorenthalten.
Ich bin dankbar, dass ich ihn habe und er mir so viele Türen öffnet. Lesen ist für mich ein Geschenk und eine sehr achtsame Tätigkeit. Ich kenne aber auch ganz andere Leser und Leserinnen: gedanklich beschäftigte, die sich beim Lesen sehr konzentrieren, um nicht den Fokus zu verlieren, sprunghafte, die verschiedene Werke anlesen oder nur überfliegen, oder zielstrebige, die versuchen, ein Buch in höherer Geschwindigkeit und möglichst effektiv »zu absolvieren«.

Vielleicht ist Lesen da ein bisschen wie Zuhören. So als hörte ich dem Autor oder der Autorin mit meinen Augen zu. Und es ist eine schöne Art des Zuhörens – denn ich erwidere nichts. Es ist kein Dialog.
Ich halte dies für etwas, das wir vom Lesen mitnehmen können: Zuzuhören, um zu verstehen, nicht, um zu antworten.
Das Buch bringt dabei eine gewisse Stille und Reglosigkeit mit sich. Es begegnet uns Reiz arm. Ich meine damit nicht, dass es kein sinnliches Erlebnis ist. Schließlich sind es ja gerade Geruch, Haptik und das Geräusch des Umblätterns, welche es von anderen Medien unterscheiden. Aber sein Wesen scheint unaufdringlich, ruhig und geduldig.
Und gehen wir davon aus, dass wir beim Lesen zuhören und auch davon, dass wir dabei einem Menschen oder seinen Gedanken aus der Vergangenheit zuhören, so ist das Buch oder Papier im alltäglichen Gebrauch und in unserer heutigen Zeit das einzige Medium, auf dem dies offline und ohne eine Maschine oder Strom möglich ist. Das scheint erst mal ein banaler Faktor zu sein. Ich werde mich ihm aber noch in aller Ausführlichkeit widmen. Zu erst jedoch endet meine Betrachtung des Buches an dieser Stelle.

*

Ich danke dir, dass du mir mit deinen Augen bis zum Ende zugehört hast. Dieser Text ist fern von einer objektiven Analyse. Er ist aus Liebe entstanden. Aus Liebe zu einem Medium, das viele Themen und Menschen an mich herangetragen und mich in diesem Leben bisher sehr bereichert hat.
Und es mag sein, dass ein Tag kommen wird, an dem auch ich meine Zeilen auf Papier betten werde. Meine Gedanken würden jauchzen, wenn ihnen diese Ehre zu Teil würde. Ihre Seele bekäme einen Körper, und ihre Reise auf dieser Welt würde real.
Und es würde Menschen die Möglichkeit geben, diese Zeilen zu lesen, indem sie auf Papier blicken, statt auf einen Bildschirm. Ich würde es tun für all die Menschen, die auf Bücher starren.

Was ist, wenn morgen alles vorbei ist?

Habe ich all die Dinge getan, die mir am Herzen liegen?
Habe ich genug Zeit mit denen verbracht, die mir nahe stehen und die ich liebe?
War ich wild genug?
War ich frei genug?
Habe ich genügend Zeit mit mir selbst verbracht?
Bin ich mit mir im Reinen?
War ich an den Orten, an denen ich sein wollte?
Bin ich an dem Ort, an dem ich sein will?
Habe ich genug geteilt?
Habe ich genug gegeben?
Habe ich gut genug zugehört?
Habe ich die Menschen um mich gesehen?
War ich offen genug?
War ich tolerant genug?
War ich dankbar genug?
Habe ich die Arbeit vollbracht, die mir Spaß macht?
Die mich erfüllt?
Habe ich ein erfülltes Leben gelebt?
Habe ich auf mich geachtet?
Habe ich alles gesagt, was ich sagen wollte?
Habe ich mich genügend selbstverwirklicht?
Habe ich genug getan, was mir einfach nur Spaß macht – ohne weiteren Grund?
Habe ich genug getanzt, gelacht, geliebt?
Habe ich genug vertraut?
War ich immer so ehrlich, wie ich es sein wollte?
War ich verletzlich genug?
Habe ich die Spuren hinterlassen, die ich hinterlassen wollte?
War ich für andere der Mensch, der ich sein wollte?
War ich das gleiche für mich selbst?
Habe ich gut für mich gesorgt?
Habe ich meine Zeit gut genutzt?
War ich mir ihrer bewusst?
Habe ich genug diskutiert?
Habe ich genug gekämpft?
Habe ich genügend »richtige« Entscheidungen getroffen?
Und genügend »falsche«?
Habe ich genug gewagt?
Habe ich genug gefragt?
Habe ich mich selbst geliebt?
Weiß ich, wer ich bin?
Bin ich frei?

Kann ich all das mit Ja beantworten?
Und was bedeutet es, wenn nicht?

Die Reise ins Land der Geduld

Warten hat für mich etwas Magisches an sich. Es versetzte mich schon oft in einen Zustand, den ich früher als sehr unangenehm empfand, gab mir das Gefühl, in der Schwebe zu hängen, mich in den Fängen der Ungewissheit zu befinden, und ließ mich herbei sehnen, dass es vorüber geht.

Wenn ich an Situationen denke, in denen ich in meinem Leben warten musste, passierte dies nicht nur unfreiwillig sondern oft auch unerwartet oder ungeplant. Ob an der Kasse, auf den Bus oder Zug, aufs Essen, auf ein Paket, auf Geld, Verabredungen oder Feedback – es waren Situationen, in denen sich Menschen, Dinge oder zeitliche Abläufe verspäteten oder vielleicht generell eine zeitliche Erwartungshaltung gestört wurde.
Ich fühlte mich dabei irgendwie fremdbestimmt. Statt einer Situation, in der ich warten musste, hätte ich immer eine gewählt, in der ich es nicht müsste. Im Normalfall hatte ich also keine andere Wahl, als zu warten oder aber von dem Erwarteten abzulassen. Machtlosigkeit oder Frustration – beides scheint kein angenehmer Umgang mit der Thematik. Wie kann ich also warten, ohne mich dabei schlecht zu fühlen?

Manchmal suchte ich mir einen »Zeitvertreib«, etwas, dass die Zeit vertreibt, etwas, durch das ich nicht merkte, wie die Zeit vergeht, das mich vergessen ließ, dass ich eigentlich wartete. Das ist eine Möglichkeit des Umgangs.
Aber warte ich dann wirklich noch? Wenn ich nicht mehr »aktiv warte« sondern mir eine andere Beschäftigung suche, als das Warten selbst, dann übe ich ja diese Beschäftigung aus und nicht mehr das Warten. Wir sagen zwar »wir tun etwas, während wir warten«, eigentlich müsste es aber vielleicht korrekter Weise heißen »wir tun etwas, statt zu warten«. Ich denke, man könnte das wirkliche Warten definieren als das bewusste Ertragen eines Zeitraumes, in dem nichts weiter passiert, als dass Zeit verstreicht. Eines Zeitraumes, in dem ich keine Handlung ergreife, um dieses Ertragen erträglicher zu gestalten. Eines Zeitraumes, in dem ich nichts tue, außer in einer Erwartungshaltung zu verharren, und eine Art Stillstand akzeptiere.

Ich glaube, das könnte auch der Grund sein, warum es vielen Menschen – und das besonders in unserer Gesellschaft – widerstrebt zu warten: es verstreicht Zeit, ohne das etwas passiert. Ich kenne sie aus der Vergangenheit nur zu gut: Zeit, in der ich weder produktiv oder effektiv, ja noch nicht mal mit irgendwas beschäftigt war. Es ist eine Zeit, die mir sinnlos erschien oder vergeudet. Und von sinnloser vergeudeter Zeit wollte ich so wenig wie möglich in meinem Leben haben. Immerhin hatte ich eh schon das Gefühl, als hätte ich für nichts Zeit.

Wenn ich diese Tatsache so betrachte und in den Zusammenhang unseres Zeitwandels setze, sieht es so aus, als genieße Warten, je weiter wir uns entwickeln, einen stetig abfallenden Stellenwert. Die Welt »dreht sich schneller«, Wartezeiten werden durch Prozessoptimierungen und Digitalisierung verkürzt und wir lernen, dass alles immer sofort und auf Abruf verfügbar ist. Ich vermute, wir verlernen sogar fortwährend die Fähigkeit zu warten. Ob es dabei um Transport, Liefer- und Öffnungszeiten oder um das Warten auf eine Antwort auf die letzte Whats-App-Nachricht geht, ist egal. Ungeduld wird zur Tugend. Geschwindigkeit und Wachstum zeugen von Strebsamkeit.

Das gilt nicht nur für das Warten auf Input oder die Bewegung von außen, sondern überträgt sich auch auf das Warten mit der eigenen Reaktion. Ich verfiel bei jedwedem Reiz in Aktionismus und unmittelbares Reagieren. Das klingt erst einmal effizient, lässt aber einen wichtigen Aspekt auf der Strecke zurück: das Ab-Warten. Und Abwarten meint dabei, mir Raum zum Reflektieren, Abwägen, Nachdenken und Hinterfragen zu gewähren. Raum, der mir eine Zeitspanne zwischen Input und Output gibt, in der ich den Input verarbeiten, filtern, fühlen und re-kreieren kann. Wenn ich mir diesen Raum nicht gebe hat der Schöpfungsmoment, den ich sonst erfahre und an dem wahrscheinlich auch meine Inspiration ihre Wurzel findet, kaum die Möglichkeit, aus mir selbst herauszukommen, sondern ist viel öfter ein direktes Spiegeln von dem, was ich aufgenommen habe. Die Auseinandersetzung bleibt aus oder oberflächlich und hat kaum eine Chance auf Tiefe. Was auch immer mich eigentlich erreichen will oder soll, streift mich und verlässt mich dann hastig wieder. Oder ich schicke es weg, noch bevor es mich erreicht. Und so verschließe und verliere ich den Raum, in dem eine Auseinandersetzung hätte stattfinden können. Ich verliere die Möglichkeit, mich mit dem Input oder dem, was ist, zu verbinden. Ich verliere die Magie.

Worin aber besteht diese Magie?
Ich denke – und das schlägt auch eine Brücke zurück zum Warten – die Magie ist in diesem Falle das bewusste Erleben der Gegenwart. Den Blick nicht zum erwarteten Ereignis in die Zukunft schweifen zu lassen oder zu einem direkten Output zu streben, sondern vielmehr das Aushalten und Akzeptieren von »leerer Zeit«. Und damit meine ich nicht bloß »Verstreichen-Lassen von Zeit«, sondern genau so die Abwesenheit von Aktion und die Beobachtung des Momentes.
Es kostet mich immer noch manchmal große Überwindung, mir dies zuzugestehen. Ohne Aktion, Ziel oder Sinn einfach für eine Weile zu sein. Und um diese Weile zu ertragen, braucht es Ausdauer und Gelassenheit. Es braucht Geduld.

Über die Geduld selbst könnte ich jetzt noch einmal ausschweifend sinnieren und das mag zu einem anderen Zeitpunkt auch noch mal passieren. An dieser Stelle möchte ich aber nur einmal anerkennen, dass Geduld mich nicht nur beim Warten unterstützt. Geduld bedeutet nicht ausschließlich, geduldig mit äußeren Einflüssen oder anderen zu sein, sondern auch mit mir selbst. Mit mir geduldig zu sein, mir selbst Zeit zuzugestehen und einen eigenen Rhythmus zu finden und zu leben, ist, nachdem ich auch Phasen in meinem Leben hatte, in denen mir nichts schnell genug gehen konnte, für mich zu einer wahren Superkraft geworden.

Und Warten unterstützt mich dabei: Es ist eine Ausbildung meiner Geduld. Ein Trainieren meiner Superkraft. Ein unfreiwilliges Geschenk des Inne-Haltens. Es ist die Eröffnung eines Raumes für die Magie des Moments.

Ein schöner Sonnenuntergang

Ein schöner Sonnenuntergang
ist nichts mehr wert, wenn ich ihn fang.
Er will durch meine Augen treten,
tief in mich hinein
und nicht nur Inhaftierter
von einem Foto sein.

Ich schau’ ihn an und lad ihn ein,
in meiner Seele Gast zu sein.
Er dankt und gibt mir einen Kuss.
Und wenn man es so sehen mag.
ist dies der letzte Gruß
am Sterbebett vom Tag.

In dem Moment sagt er zu mir,
dass alles und wir alle mal vergeh’n,
und wir uns in Kürze wieder seh’n.
Und nach dem Abschied und in diesem Wissen,
solle ich ihn nicht betrauern, nicht vermissen.

Und dann erlischt sein letzter Schein.
Und ich bin mit der Nacht allein.
Wach und blind und ohne Zeit.
Bleib ich zurück in Einsamkeit.

Ich weine.
Und mein Licht geht aus.
Und dann plötzlich,
sehe ich das seine.

Sein Licht erhellt des Mondes Blick.
Und dieser reicht es weiter.
Der Sonnenschein kommt nachts zurück.
Und begrüßt mich hell und heiter.

Ich merke nun, er ist nie fort.
Er ist nur viel auf Reise.
Und dank des Mondes Reflektion,
Berührt er mich ganz leise.

Er tritt in meine Augen,
nimmt in meiner Seele Platz.
Und ich verwahre seine Strahlen,
wie einen lang ersehnten Schatz.

Ich lausche seiner Wärme,
in meinem Herzen schwingt sein Klang.
Und so liebe ich den Mondschein
wie einen Sonnenuntergang.

Die Entdeckung des Universums unterm Apfelbaum

Auf der Suche nach Schatten und einer Pause von den scharfen Strahlen der gleißenden Sonne fand ich einen Baum. Sie stand dort einfach so, voller Ruhe und Gelassenheit, ihre Äste über Jahre in alle Richtungen streckend. Ihre Zweige, schwer von den neugeborenen Früchten, hingen herab und bildeten einen schützenden Schirm, ein Zelt, einen neuen Himmel rund um mich herum. Wie ein Vorhang, der den Rest der Welt verbirgt. Wie eine Grenze, die dieser Baum zieht, als würde sie sagen: »Dies ist alles, was du an Welt gerade brauchst.«
Und so akzeptiere ich ihre Welt für diesen Moment als meine und setze mich nieder. Sie lässt gerade so viel Licht durch, wie ich es brauche – genug Helligkeit und Wärme, ohne zu verbrennen oder zu schwitzen.

Ich bin am Boden – in einem wunderbaren Sinne. Ich sitze auf dem Boden, auf dem Gras, dem Moos, all den kleinen Pflanzen und Wesen.
Ich fange an, genauer hinzusehen. So viele verschiedene Arten von Gewächsen.
Dann, während ich jeden Halm und jedes Blatt für sich betrachte, finde ich auf einmal eine unfassbare Weite. Es sind so viele. Mir wird plötzlich bewusst, dass ich, während ich hier sitze, wahrscheinlich eine ganze Menge von ihnen zerdrücken muss. Ich setze mich ein Stück zur Seite und sehe, dass mein Körper einen Abdruck hinterlassen hat. Oh weh. Eben war diese Wiese für mich noch ein Boden, jetzt scheint sie mir wie ein Wald – den ich zerdrückt habe.
Ich beobachte, wie jeder einzelne Grashalm sich wieder aufrichtet. Einer nach dem anderen zurückspringt in seiner ursprüngliche Form. Mir wird bewusst, wie viel Kraft es sie kosten muss. Und dann wird mir bewusst, dass jeder dieser Halme und Moos-Stränge und jedes kleine Pflänzchen die Kraft aufgewendet hat, aus einem Samen in der Erde an die Oberfläche zu stoßen und heranzuwachsen, um sich dann auszubreiten und zu vermehren. Ich betrachte die Gewächse noch etwas näher und sehe die vielen kleinen liebevollen Details, mit denen sie versehen sind. Da sind einige Blätter, die Härchen haben, einige mit winzig kleinen Stacheln und manche stehen da mit einer Blüte und tragen so einen kleinen Farbklecks. Ich sehe sattes Grün genau so wie einige vertrocknete Halme. Und dann sehe ich eine Ameise. Und eine kleine Spinne. Und daneben eine Assel. Und dann eine Spinne, die nur noch den Bruchteil der Größe der anderen Spinne hat. Um diese wirklich in ihrer Gestalt zu erkennen, bräuchte ich ein Vergrößerungsglas. Und plötzlich sehe ich, dass sich alles in meinem Sichtfeld bewegt.

Überall krabbelt und wuselt es. Da sind minuziöse Spinnennetze und eine Straße von Ameisen, die an meinem Bein vorbeiläuft. Eine der Ameisen überwindet mein Bein – als sei es nur ein Zweig, der zufällig im Weg liegt, fast so, als wäre mein Bein dort schon immer gewesen. Eine weitere Ameise tut es ihr nach. Ich merke ein Kribbeln an meinem Arm. Ein winziger Käfer kämpft sich durch meine Arm-Behaarung und hat dabei sichtbare Schwierigkeiten, voran zu kommen. An meinem Oberschenkel schaut ein weiteres kleines Getier um die Ecke. Dann eine weitere Ameise. Und dann scheinen sie überall.
Mein Körper und meine Kleidung sind hier und da mit kleinen Lebewesen bedeckt. Sie sind bei mir, weil ich bei ihnen bin. Ich habe mich hier in oder besser auf ihren Wald gesetzt. Habe mich in ihre Welt gesetzt. Bin ein Teil von ihr geworden. Wie ein Ast oder ein Stein oder Stamm oder Tier oder sonstiges, das in der Natur einen Teil ihrer Welt bildet und erkundet und erklommen wird.
Manche krabbeln über mich, manche landen auf mir und fliegen dann wieder fort. Ich frage mich, ob es sie wohl interessiert, dass ich da bin bzw. ob es für sie einen Unterschied macht, ob sie sich durch die Grashalme kämpfen oder durch meine Armbehaarung. Und dann wird mir bewusst, dass dies für viele größere Tiere, die in der Natur leben, ganz normal ist. Anderes kleines Getier lebt auf ihnen und mit ihnen. Sie sind quasi dauerhaft besetzt und Lebensraum für andere Tiere.

Während ich eine unfassbar kleine Spinne dabei beobachte, wie sie über meine Haut krabbelt, stelle ich fest, dass es wahrscheinlich irgendwie ähnlich unter meiner Haut aussieht und in mir drin. Denn dort fließt mein Blut und dort sitzen Zellen und Bakterien. Und alles bewegt sich und arbeitet und es laufen Prozesse ab, die mich so funktionieren lassen, wie ich es tue. Alles fließt und krabbelt und wächst.
Und meine Haaren scheinen mir plötzlich wie das Gras, auf dem ich sitze, und meine Arme und Beine wie die Äste, die der Baum über mir ausstreckt.

Ich rette eine kleine Fliege aus meinem Tee und beobachte sie dabei, wie sie ihre Beine sortiert und versucht, such von der Flüssigkeit zu befreien.

Ich lege mich hin. Und mir ist so bewusst, wie viel Fläche mein Körper gerade einnehmen muss, wie viel Welt ich gerade unter mir zerdrücke. Aber diese Welt wird damit klarkommen. Ich bin ein Teil von ihr und ich kann nicht auf dieser Welt sein, ohne auf ihr zu sein. Jeder natürliche Untergrund ist voller Leben. Und solange mir keine Flügel wachsen (und selbst dann müsste ich irgendwann landen) komme ich da nicht drum herum. Wahrscheinlich ist vieles von diesem Leben unter mir so klein, dass es von mir gar nicht gestört wird sondern einfach so weiterlebt.

Und unter der Oberfläche geht es dann ja auch noch weiter: die Wurzeln von all dem Gras und den Pflänzchen und die Wurzeln von größeren Pflanzen, kleine Käfer, Spinnen, Regenwürmer, »große Kolosse« wie Wühlmäuse oder Maulwürfe. Und wie tief es erst unter mir weitergeht. All diese Erdschichten. Mein Geist kann diese Vorstellung gar nicht vollziehen oder greifen.
Es ist eine merkwürdige Vorstellung, hier zu liegen und von »Tiefe unter mir« zu sprechen. Ich schwimme schließlich nicht auf dem Meer, sondern liege auf festem Boden. Und doch scheint es mir, so weit, wie ich mich von Größe und Relation getrennt habe, unter mir liege ein Raum, weit, groß, unendlich und sich meiner Vorstellungskraft entziehend. Ein Universum. Ein Universum unterm Apfelbaum.

Ach ja, der Apfelbaum. Ich habe sie für einen Moment fast vergessen. Wie weit in die Tiefe ihre Wurzeln wohl ragen? Sie steht so fest und sicher im Erdreich und sie sieht aus, als wenn es ihr gut ginge. Als sei sie zufrieden. Und dann lege ich eine Hand an ihren Stamm.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber es passiert erst mal nichts. Ich spüre ihre Rinde. Und irgendwann spüre ich meinen eigenen Puls. Mein Blut, wie es durch mich strömt. Und ich stelle mir vor, was unter ihrer Rinde ist, ähnlich wie ich mir vorgestellt habe, was unter oder in meiner Haut passiert. Und ich stelle mir die gleichen Zell-Prozesse vor, ganz viele kleine sich bewegende Teilchen.
Die Prozesse, die in ihr ablaufen und sie wachsen lassen, sie Blätter, Blüten und Früchte tragen lassen. Und je mehr und länger ich über diese kleinen Teilchen und die Teilchen in den Teilchen nachdenke, desto größer, weiter, tiefer wird der Raum, den ich mir unter der Rinde vorstelle.
Und dann wird mir bewusst, dass der Baum und auch ich das gleiche Universum in uns haben, das ich unter dem Gras erahnt habe, das sich unter mir im Meer auftun würde und über mir im Himmel. Es ist genauso in mir und nach innen wie um mich herum und in allem, was mich umgibt.

Ich habe ein bisschen das Gefühl, innen und außen lösten sich auf. Als gäbe es kein Innen und Außen mehr sondern nur noch eins und den Abstand oder den Fokus, mit dem ich es betrachte. Die Perspektive, aus der ich beobachte. Und vor allem aber das Bewusstsein, mit dem ich es tue.

Denn wenn ich mir all diese Dinge nicht bewusst mache, dann sitze ich einfach nur im Schatten und schreibe einen Text.
Und genau damit werde ich jetzt aufhören.